Nicht verwunderlich, dass dieses Zitat ausgerechnet von einem italienischen Dichter und Philologen stammt: Giacomo Leopardi. So ist es die italienische Lebensart, die uns Deutsche regelmäßig verführt. Sei es auf Reisen im Land der Leichtigkeit, Lebendigkeit, Genuss und Lebensfreude oder schlicht im Restaurant oder der Bar um die Ecke mit italienischen Köstlichkeiten und einer extra Portion italienischem Lebensgefühl.
Befasst man sich genauer mit Leopardis Zitat, führt es zu einem Aspekt, der mich schon lange beschäftigt: Autonomie und Eigenverantwortung in der Gestaltung der eigenen Lebensqualität.
Meine persönliche Geschichte
„In Mailand waren meine Sinne viel intensiver angesprochen“
Mein persönlicher Tipping-Point ereignete sich nach einem 5-wöchigen beruflichen Italienaufenthalt in Mailand. Die Rückkehr nach Deutschland war ein harter Aufprall. Alles wirkte auf mich trist, langweilig, verstaubt und viel zu eng. Mich schockierte meine Gefühlslage und ich begann, den Unterschied zwischen meinem Lebensalltag in den fünf Wochen in Mailand und meinem Lebensalltag zurück in Deutschland zu studieren. Was genau machte den Unterschied? Wo fehlte mir das Lebendige und Freudvolle? Ich ging innerlich den Tagesablauf in Mailand durch und der Unterschied zeichnete sich bereits auf dem morgendlichen Weg zur Arbeit ab. In Mailand waren meine Sinne viel intensiver angesprochen. Ich genoss die Geselligkeit an den offenen Kaffeebars, die die Mailänder auf dem Weg zur Metro aufsuchten, das Geklapper der dickwandigen Kaffeetassen, das Klacken, wenn der Siebträger einrastet, das Mahlgeräusch der Espressobohnen, das Ausklopfen der Siebträger, der Duft der leckeren, dampfenden Espressi und Cappuccini. Auch an Tagen, an denen ich selbst keinen Caffè bestellte, war die Atmosphäre an jeder Straßenecke allgegenwärtig.
„Ich wollte nur noch weg und dem von mir empfundenen tristen Dasein in Deutschland entrinnen“
Dies ist nur ein Beispiel, das ich gesammelt hatte und ich stellte fest, dass mir diese für mich wohltuenden Sinneseindrücke in Deutschland fehlten. Großer Frust stellte sich ein, dass ich nicht mehr in meinem geliebten Italien war. Ich wollte nur noch weg und dem von mir empfundenen tristen Dasein in Deutschland entrinnen. Bestenfalls sogar für immer. Doch nach intensiver Auseinandersetzung und Abwägung aller Konsequenzen wurde mir schnell klar, dass es weder eine schnelle noch dauerhafte Lösung sein würde. Und so machte ich mich auf den Weg, mir Schritt für Schritt mehr Lebensqualität einzuräumen. Ich habe mich gefragt, wie ich trotz der gegenwärtigen Umstände mehr von dem in mein Leben bringen kann, das mir Genuss und Freude verschafft. Und so begann ich mit kleinen Dingen. Den Auftakt machte die Anschaffung einer Siebträgermaschine im Büro, durch die nicht alleine die Kaffeequalität stieg, sondern auch Gleichgesinnte anzog. Neben meinem direkten Kollegen, der sofort für die Idee begeistert war, standen plötzlich weitere Kolleg:innen im Büro, die an unserem neuen Kaffeeritual teilhaben wollten. Ein neuer, sinnlicher Büroalltag hielt Einzug.
„Ich suchte in allen Lebensbereichen Räume und Felder, die mir mehr Freude, Sinn und Lebensqualität verschafften“
Danach folgten viele weitere kleine Schritte in meinem Leben, die dann große Steine zum Rollen brachten. Plötzlich erschien mir die Welt offen zu stehen und ich suchte in allen Lebensbereichen Räume und Felder, die mir mehr Freude, Sinn und Lebensqualität verschafften. Heute lebe ich in Rosenheim, 300 km von meiner Arbeitsstätte entfernt. Ich habe meine Arbeitszeit auf 80% reduziert und das Arbeitsmodell flexibilisiert. Dadurch habe ich Freiräume, um intensiv Italienisch zu lernen und meinen Interessen außerhalb der Berufes, wie Bergwandern und Skifahren, nachzugehen. Gleichzeitig bewege ich mich regelmäßig zwischen Deutschland und Italien und genieße in vollen Zügen diese Flexibilität.
Euthymie - Was der Seele gut tut
An meinem Beispiel möchte ich zeigen, dass wir mehr Einfluss auf unsere Lebensqualität haben, als es manchmal erscheint. Wir sind nicht Opfer unserer Umstände, sondern können Einfluss auf unsere Gefühle und Stimmungen nehmen. Durch den bewussten Genuss können wir in unserer Umgebung Angenehmes und Schönes aufsuchen. Es geht darum anzuerkennen und zu erfahren, dass neben eher belastenden Erlebnisse und Umstände, wie Stress, Krankheit, Unzufriedenheit oder Traurigkeit, auch positive Erlebnisse und Empfindungen existieren und wir diese bewusst aufsuchen oder uns erinnern können. Es geht nicht darum, etwas zu kompensieren, zu vermeiden oder vor etwas zu flüchten. Genuss im Sinne der „Euthymie“ (griechisch „Was der Seele gut tut“) schafft einen Ausgleich. Genussfähigkeit zu entwickeln bedeutet, durch ein euthymes Verhalten mehr Lebensqualität zu kreieren.
Genuss enttabuisieren
Wirkungsvoll sind insbesondere eher kleine, alltägliche Wohlfühlmomente, die als Kraftquelle dienen können. Eine aus meiner Erfahrung wichtigste Voraussetzung ist, dass wir uns Genuss zugestehen. Im Therapieansatz „Die kleine Schule des Genießens“ von Eva Koppenhöfer gilt dies als eine der Genussregeln, um die Genussfähigkeit zu stärken oder wieder zu erlangen. Es ist wichtig, negative Zuschreibungen und Grundüberzeugungen in Bezug auf Muße und Genuss zu entlarven und den vermeintlichen Widerspruch aufzulösen. Ich kann konzentriert und produktiv arbeiten und mich gleichzeitig an dem lecker verströmenden Caffè-Duft erfreuen. Ich kann meinen Arbeitsplatz im Homeoffice so einrichten, dass ich, statt gegen eine Wand zu schauen, einen schönen Blick genieße. Ich kann lästige Wartezeiten nutzen, indem ich mir erlaube, die Augen zu schließen und tief durchzuatmen, den Nacken zu lockern und ein wenig zu entspannen. Genussfähigkeit ist uns angeboren und wird im Zuge der Sozialisierung und Lebensgestaltung oft tabuisiert oder vernachlässigt.
Genussfähigkeit als Prävention und Selbstfürsorge
Wer die Genussfähigkeit wieder entdecken und stärken will, kann sich über vielfältige Effekte freuen. Sie stärkt unser seelisches Immunsystem, fördert Selbstfürsorge und wirkt präventiv. So kann ich durch den bewussten Genuss meine eigenen Bedürfnisse besser kennenlernen, wahrnehmen und differenzieren. Ich kann gezielt Kraftquellen aufsuchen und Belastungsgrenzen achten. Ich kann eine höhere Resistenz in Versuchungssituationen zu übermäßigem Konsum entwickeln und gezielt Einfluss auf meine Gefühlslage zur Vorbeugung vor Depression oder Einsamkeitsgefühlen nehmen.
Der Genuss im Sinne der Euthymie, spielt in den Workshop-, Coaching- und Reiseangeboten von GODI LA VITA eine zentrale Rolle. Neben Achtsamkeit und der Bergnatur, ist sie eine der drei Wirkfaktoren meines Ansatzes.
Vertiefende Literatur mit Verweisen zu wissenschaftlichen Studien
„Kleine Schule des Genießens“ Eva Koppenhöfer, ISBN 3-89967-108-2, Pabst Science Publishers
Comentarios